Geschichte als Schokolade von Alex Günther




Geschichte als Schokolade von Alex Günther

Beitragvon Tim » So 2. Nov 2014, 20:00

Hallo,

da die meisten in der Rittergilde keine Historiker sind, aber unser Gegenstand die Geschichte ist, möchte ich ein paar wichtige Worte darüber verlieren wie wir Geschichte eigentlich betrachten können und welche Verantwortung wir haben, wenn wir mit ihr spielen.

Das ist nämlich gar nicht so leicht wie es zunächst den Anschein hat. Wir kennen Geschichte aus der Schule, aus Zeitschriften, historischen Romanen, N24 Dokus oder anderen populären Medien. Geschichte ist zu unserer Kultur geworden, zu einer Tafel Schokolade, von der wir jederzeit naschen können, so singt es so schön der Kabarettist Rainald Grebe (Guido Knopp). Geschichte unterhält. Aber wie?
Der Witz ist, dass Geschichtsdokus und Historienfilme gar nicht schlecht sind, ich mag Schokolade und wir alle mögen Schwertkampf. Müssen wir uns dafür schämen? Nein. Das alles ist völlig in Ordnung. Das Problem liegt woanders, darauf komme ich gleich zu sprechen.

Zunächst ist es erst einmal wichtig zu verstehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wir im Fernsehen sehen und dem, was eine Wissenschaft damit macht. Beide sind unterschiedlich, beide haben ihre Daseinsberechtigung. Das eine, Geschichte als Schuldbildung oder Unterhaltung, bezeichnet sich als Geschichtskunde. Geschichtskunde erzählt von Personen, Objekten und Ereignissen und bedient populäre Vorstellungen. Klar, niemand kauft Schokolade, die nicht schmeckt. Geschichtskunde will uns verführen: durch bunte Bilder, dramatische Off Stimmen, Sex und Gewalt, durch Hollywoodstyle, irgendwelche glaubhaften Professoren und epischer Musik. Auch das ist gewissermaßen nicht schlimm. Das Problem ist eher, dass diese Art der Geschichtskunde eine „gut gemachte Illusionen und perfektionierte Erzählungen im Deckmantel verbriefter Wahrheit“ ist. Das bedeutet, sie möchte uns erklären, dass sie den einzigen Wahrheitsanspruch besitzt, nur sie kennt die Wahrheit und zwar genau so! Nur diese Schokolade ist die einzig wahre Schokolade! Aber stimmt das? Damit lässt sie den Unterhaltungsanspruch als einzigen Interpretationsansatz gelten.

Na gut, aber Daten, Zahlen, Ereignisse sind schließlich objektive Wahrheit, denkt ihr jetzt, oder? Das Problem liegt in der Sprache. Ich bin der Meinung es gibt eine objektive Wahrheit der Geschichte. Aber da sich jeder Mensch seine eigene Wahrheit zusammendenkt, ist das Phänomen so komplex, dass der Mensch das nicht begreifen kann. Das einzige, was er tun kann, ist es in seiner Sprache oder in Bildern wiederzugeben, so wie er die Wahrheit, seine Wirklichkeit sieht. Und so entstanden in der Geschichte das, was wir als Quellen wiederfinden können: Briefe, Urkunden, Tagebücher, Bücher usw. Wenn aber nicht mal der Mensch früher die ganze Wirklichkeit kannte, sondern nur seinen Ausschnitt, mit dem, was für ihn wichtig war, Bedeutung hatte, wie können wir dann sagen, dass WIR die Wahrheit durch die Quellen erkennen? Quellen sprudeln ja nicht die Wahrheit heraus, obwohl die Wortwahl das denken lässt. Nein, vielmehr müssen wir, wenn wir die Quellen lesen, für uns herausfinden, was wichtig ist. Jetzt beginnt das Spiel von vorne. Denn natürlich sind auch wir geprägt von den Ideen unserer Zeit, durch unsere Gedanken, durch unsere Gesellschaft, Freunde, Lehrer, Eltern oder VIPs. Das alles lesen wir mit, wenn wir eine historische Quelle verstehen wollen.

Also, wieso kann uns eine Doku vorschreiben, dass sie die einzige Wahrheit kennt? Dass die Bilder die Wirklichkeit zeigen? Hat sie nicht ein Redakteur so ausgewählt und zusammengeschnitten? Und der Erzähler in der Doku, der uns was erzählt. Ist dies nicht auch schon eine Interpretation, kann Sprache vollkommen wertfrei sein und will Unterhaltungsfernsehen das? Natürlich ist das dem Fernsehen egal, wir sollen es geil finden und das ist auch ok, solange wir nicht alles als eindeutige Wahrheit verstehen und wir nicht dauerhaft die Schokolade naschen, die uns immer dicker und dümmer macht.

Geschichte kann also nur erzählt werden. Sonst wäre es nicht Geschichte, sondern Vergangenheit und die kann physikalisch gemessen werden. Aber Geschichte machen Menschen durch ihre Art zu leben. Wenn das Fernsehen erzählen muss und die Wissenschaft auch erzählen muss (wie soll sie es sonst anders machen?), worin besteht dann der große Unterschied? Denn alle kennen Geschichtskunde, kaum einer Geschichtswissenschaft. Wie kann uns Geschichtswissenschaft helfen?

Es nützt nicht viel ein Loblied auf die Geschichtswissenschaft zu singen, vielmehr möchte ich erklären, was der aktuelle Output ist, was nützlich für unser Denken ist. Die Suche nach der historischen Wahrheit kann ziemlich frustrierend sein. Oftmals reicht dann nicht eine Quelle aus, sondern ein ganzer Berg, dieser wird dann gemischt mit aktuellen Forschungsrichtungen (z.B. Kulturgeschichte, Politikgeschichte, Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Globalgeschichte usw.) und am Ende kommt nie ein eindeutiges Ergebnis heraus. Zumindest wenn man bewusst nicht nach der Schokolade im Einkaufsladen greift, sondern die vielen anderen Produkte auch mit beachtet. Ja, auch Gemüse! Also NICHT zu sagen: „ich kenne eine Quelle, ich habe eine Theorie, die muss stimmen“, sondern alles gleichermaßen berücksichtigt. Dann gibt es viele Perspektiven, viele Bedeutungen, viele Geschichten und kein Interpretationsansatz reicht aus, um alle jemals vollständig zu verstehen. Demnach darf eine Geschichtsschreibung nie monokausal sein, teleologisch oder deterministisch. Jeder, der es so versucht, muss argumentativ scheitern. Aber man kann sich der Geschichte annähern, und je nach Fragestellung immer wieder neue Zusammenhänge entdecken. Das wichtigste ist aber dabei zuzugeben, dass bewusst nur EIN Interpretationsansatz, nur EIN Zugang zur Geschichte erzählt wird.
Und mehr müssten die Dokus auch gar nicht versprechen, aber an genau dieser Stelle lügen sie uns immer an. Sie sind nicht unbedingt falsch, aber häufig einseitig und sie geben nie zu, dass sie nicht die ganze Wahrheit versprechen.

Was bedeutet das für uns, für die Rittergilde? Dabei sehe ich zwei Instanzen. Die erste sind wir als einzelne Individuen. Jeder muss sich klar machen, dass wir Geschichte tagtäglich fast nur als Schokolade konsumieren. Wenn ihr mit anderen über Geschichte sprecht, dann denkt daran, dass niemand die komplette Deutungshoheit über Geschichte hat, dass niemand sagen kann, dass er alles weiß. Nichts ist Schwarz oder Weiß(e Schokolade). Die höhere Instanz ist die organisatorische. Wir vermitteln kollektiv ein Geschichtsbild das affektiv mächtig aufgeladen ist. Und darin spiegelt sich unser Erfolg. Das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit widerspricht der historisierenden Logik der Uneindeutigkeit. Der Konsum in der Unterhaltungswelt, zu der wir dazu zählen, verspricht das Gegenteil, weil die menschliche Nachfrage eben die historische „Wahrheit“ hören und sehen will. Da befinden wir uns also im Spannungsfeld. Das Publikum über die multirelationale und multikausale Konstruktion unserer Darstellung aufzuklären gleicht wahrscheinlich dem Selbstmord in der Unterhaltungsbranche. Der Mut zur Lücke fordert sicher Kraft und Innovationen und die müssen wir nicht unbedingt von uns verlangen. Wichtiger ist es vielmehr, dass wir diese Vielfältigkeit im Hinterkopf behalten. So sind wir aufgeklärt und in alle Richtungen vorbereitet sowie uns den Auswirkungen auf das Publikum bewusst. Wenigstens im Subtext können wir auf diese Weise die Vielfältigkeit der Geschichte mit transportieren.

Ich hoffe ich konnte euch etwas aufklären und euren Denkhorizont erweitern. Ich für meinen Teil gönne mir jetzt erst einmal ein bisschen Schokolade.
( Alex Günther )

Dieser Beitrag kommt von Alex Günther und ich finde es Großartig das wir alle das gleiche Denken =)
Tim
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